(Text Angang Oktober, akt. Ende Dezember) Mitte März 2020 – die große Relevanz der Corona-Epidemie war nicht mehr zu
übersehen – hat sich aufgrund persönlicher Ansprache eine Autorengruppe aus fachlich und wissenschaftlich interessierten
Einzelpersonen zusammengefunden, um zu den Entwicklungen rund um diese Infektionskrankheit Stellung zu nehmen und
Konzepte zu ihrer Kontrolle zu diskutieren. Die „Thesenpapiere zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19“ (hier zum
Register) folgten alle einer gleichen Dreiteilung: ein klinisch-epidemiologisches Kapitel 1 machte den Anfang, das mittlere Kapitel
war der Prävention und „Stabilen Kontrolle“ der Epidemie gewidmet, und das Schlusskapitel – in den Reaktionen besonders positiv
aufgenommen – bezog sich auf den gesellschaftspolitischen Kontext. Die Untertitel
„Datenbasis verbessern
Prävention gezielt weiterentwickeln
Bürgerrechte wahren“
machten dies deutlich, in Tp4 ausformuliert als
„Verbesserung der Outcomes in Sicht
Stabile Kontrolle: Würde und Humanität wahren
Diskursverengung vermeiden: Corona nicht politisieren“.
Ohne Zweifel sind bei der Beherrschung einer Epidemie Virologen und andere Grundlagenforscher von größter Bedeutung, aber
die Autorengruppe war sich einig in der Ansicht, dass eine Epidemie nicht nur aus biologisch-medizinischer Perspektive zu
verstehen ist, sondern immer auch aus gesellschaftlicher und fachübergreifender Sicht zu interpretieren und nur so zu
kontrollieren ist. Aus diesem Grund kam es auch zu der interdisziplinären und interprofessionellen Zusammensetzung, die sich
im Laufe der Zusammenarbeit noch weiter verbreiterte: nur durch Einbeziehung praktisch-medizinischer, pflegerischer,
rechtsmedizinischer, soziologischer, juristischer und praktisch-politischer sowie politikwissenschaftlicher Sichtweisen kann die
Ausbreitung einer Epidemie so gut verstanden werden, dass man die wichtigsten zu ergreifenden Maßnahmen erkennt, und die
wichtigsten Auswirkungen erfasst, die über den Verlauf Auskunft geben. „Auswirkungen“ heißt definitiv nicht nur die „Zahl der
Fälle“, sondern auch die Auswirkungen auf die Lebensqualität und Autonomie der Bürgerinnen und Bürger: es darf nicht sein, dass
alte Menschen isoliert versterben, junge Menschen ihre Bildungschancen verlieren und sich die soziale
Spaltung vertieft.
Dies ist keine leichte Aufgabe, hat sich doch ein ganz neues, gesellschaftliches Narrativ in den
Vordergrund geschoben: die Bilder von Bergamo, ein katastrophales Szenario, das beinahe alles zu
rechtfertigen schien. Aber schauen wir uns heute die Situation mit Ruhe und kritischer Distanz an: es
versterben von 100 hospitalisierten CoViD-19-Patienten genauso viel wie von 100 hospitalisierten
Patienten mit einer ambulant erworbenen Pneumonie (gleichen Alters). In diesem Kontext hält sich
CoViD-19 durchaus „im Rahmen“, auf jeden Fall besteht keine katastrophale Situation, die es erlauben
würde, alle gesellschaftlich konstituierende Grundsätze außer Kraft zu setzen (so auch die
Stellungnahme vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages, 9.9.2020). Das Problem besteht
allerdings im zeitlichen Zusammentreffen und der Konzentration auf ältere Patienten, die für CoViD-19
charakteristisch ist.
In den letzten Jahrzehnten ist es in den Gesundheitswissenschaften zu einigen tiefgreifenden
Veränderungen gekommen, die eine ganze Generation der im Gesundheitswesen tätigen Personen
beeinflusst haben und vieles zum Besseren wenden konnten. Die Evidenz-basierte Medizin hat Methoden
entwickelt, um Sinnvolles von Unnötigem (oder Schädlichem) zu trennen, die Versorgungsforschung hat
die Multidisziplinärität in diesem Bewertungsvorgang zu operationalisieren gelehrt, die
Patientensicherheits-„Bewegung“ hat das Umgehen mit Risiken und das Zustandekommen von Schäden
aufgeklärt, und die Diskussion um die Patientenautonomie hat den passiven „gehorsamen“ Patienten zu
einem aktiven Partner im Gesundheitswesen gemacht. All diese Entwicklungen wurden in den
Thesenpapieren zugrunde gelegt, wenn es z.B. um die Beurteilung von bestimmten
Präventionsmaßnahmen (Masken) unter gegebenen Prävalenzbedingungen oder um die Würde und
Humanität als Zielpunkt von Prävention ging. Es ist nun mal so: wenn man eine Präventionsmaßnahme
mit einer Wirkung von 80% in einem Umfeld mit hoher Ansteckungswahrscheinlichkeit verwendet
(Intensivstation), dann ist sie selbstverständlich. Wenn aber die Wahrscheinlichkeit der Infektion sehr
gering ist (z.B. im Supermarkt oder im Freien), dann kommt man sehr schnell in eine Situation, dass sehr,
sehr viel Personen eine Maske tragen müssten, damit eine einzige Infektion verhindert wird. Das macht
vielleicht nichts – aber man muss es so sagen, und man muss auf dieser Basis zu einer transparenten
Entscheidung kommen, die dann auch lauten kann, dass man die Maßnahme nicht ergreift.
So ziehen sich die Themen Transparenz und Risikokommunikation durch alle Papiere. Völlig klar ist: im März 2020 gab es eine
Krise, und Auswirkungen sind bis heute spürbar. Aber aus Sicht der Risikoforschung und dem praktischen Umgang mit
Risikosituationen ist ebenso klar: man kann einer Personengruppe oder einer ganzen Bevölkerung nicht auf unbestimmte Zeit eine
Alarmierung auf höchstem Niveau zumuten. Denn die Konsequenzen sind bekannt: es kommt entweder zu Ausweichbewegungen
oder zu einer Haltung der Passivität/Interessenlosigkeit, wenn nicht gleich zu einem durchgängigen Fatalismus. Der eigentlich
zeitgemäße „aktive Bürger“ wird auf jeden Fall zum Rückzug gedrängt, kritische Fragen werden oft nicht angemessen
wertgeschätzt, ein Teil der Bevölkerung wird abgetan als “Covioten”, alles mit der Konsequenz, dass die in Krisensituationen so
wichtige Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft der Einzelnen geschwächt wird. Es ist daher die Pflicht jedes
Verantwortlichen, die Alarmierung beizeiten zu beenden und erreichbare, transparent begründbare und authentische (nicht
vorgeschobene) Ziele zu setzen (de-Briefing sagen hierzu die Risiko-Experten).
Solche Ziele könnten z.B. mit einer anderen Form der Darstellung der Entwicklung der
Epidemie beginnen. Es geht ja nicht nur um die ärgerliche Darstellung der Letalität in den
täglichen RKI-Berichten („3,8%“), wenn völlig unbestritten ist, dass die Letalität unter
Berücksichtigung der Dunkelziffer bei 0,3-0,5% liegt, also um den Faktor 10 niedriger. Es geht
um solche basalen Ungenauigkeiten wie die Bezugnahme auf die „Inzidenz“ oder „7Tage-
Inzidenzrate“. Es wäre natürlich schön, wenn wir die tatsächliche Neuerkrankungsrate (dito
Inzidenz) in unserer Bevölkerung kennen würden, allerdings müsste das nach den Regeln der
Kunst entweder in der gesamten Bevölkerung oder in einer repräsentativen Stichprobe
geschehen, und zwar an der gleichen Stichprobe über einen längeren Zeitraum. Stattdessen
verwenden wir aber Anlass-bezogene, unsystematisch ausgewählte Testmaßnahmen bei
unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung, die weder repräsentativ sind noch unabhängig von
externen Faktoren wie Testverfügbarkeit oder politischer Zielsetzung sind.
Warum das wichtig ist? Weil die Bezugnahme auf die Inzidenz und die Neuerkrankungsrate
insinuiert, dass wir damit die Dynamik der Infektion sehen und Neuinfektionen abfangen
können, ja sogar die Wirksamkeit der Maßnahmen wie Lockdown etc. evaluieren und so die
Infektion beeinflussen, ja vielleicht sogar ausrotten können. Dies entspricht jedoch nicht
unseren realen Handlungsoptionen, ausrotten lässt sich eine Epidemie mit
asymptomatischer Übertragung nicht. Wollte man die Epidemie kontrollierend begleiten, dann
wären in allererster Linie reliable und valide Häufigkeitsparameter notwendig, die nur an
repräsentativen Stichproben gewonnen werden können. Annäherungen wie “50/100.000”
gehören mit Sicherheit nicht dazu, denn es ergibt keinen Sinn, die positiven Testergebnisse
einer Woche zusammenzuzählen und dann auf die Gesamtbevölkerung umzulegen, allein schon deshalb, weil man ja gar nicht
weiß, wieviel unentdeckte Fälle im nicht-getesteten Teil der Bevölkerung noch vorhanden sind.
Solche verlässlichen Häufigkeitsmaße würden uns auch Antworten auf die eigentlich drängenden Fragen geben, z.B. wie es zu
dem Süd-Nord-Gefälle der gemeldeten Neu-Fälle in Deutschland oder zu dem großen Unterschied zwischen Frankreich und
Deutschland kommt? In unserem Nachbarland lagen ja vor kurzem nicht nur die täglichen neu gemeldeten Fälle um den Faktor
knapp 10 höher als bei uns, sondern es hatte auch der Anteil der positiven Tests bereits 20% erreicht (bei uns derzeit um 11%).
Wie das zu erklären ist? Ganz einfach: wir haben ein Infektionsgeschehen in der Bevölkerung, das in unterschiedlichen
Ländern/Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt ist, und wir entnehmen einzelne Prävalenz-Stichproben, die - uns eben dieses
Faktum vor Augen führen. Weiter nichts: die wirkliche Infektionsdynamik erkennen wir auf diese Weise nicht, hierzu bräuchten wir
repräsentative Bevölkerungskohorten, die aber immer noch nicht in Gang gesetzt wurden.
Nach dieser Sichtweise müsste daher die Kommunikationsstrategie grundsätzlich anders aufgestellt werden. Es sollte beim
Testen nicht (nur) um das Aufdecken von Neu-Erkrankungen gehen, sondern das Ziel des Testens muss in erster Linie in der
Unterstützung der Gesamtstrategie liegen, mit der man mit der Epidemie umzugehen gedenkt. Gezielte, sinnvolle
Testanwendungen sollten sich daher in erster Linie auf die verletztlichen Bevölkerungsgruppen richten, auf die Gruppen mit
unbekanntem (z.B. Lehrer) oder sehr hohem Risiko (Mitarbeiter in den Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Pflege),
und die Gesundheitsämter sollten ihr langjähriges Erfahrungsgut beitragen, damit die Bereiche, in denen eine hohe
Infektionsaktivität und ein hohes Risiko für Herdausbrüche vorliegt, rechtzeitig erkannt werden können.
Die Zusammenarbeit der verschiedenen Mitglieder der Autorengruppe hat zu zahlreichen Empfehlungen und Analysen geführt,
die hier nicht alle wiedergegeben werden können. Im vierten Thesenpapier stand z.B. die politikwissenschaftliche Dimension ganz
im Vordergrund, im dritten Papier die Evaluation der juristischen Implikationen und die sehr wichtige Problematik der Corona-Apps.
Das 5. Papier widmete sich im Schwerpunkt den Präventionsstrategien, das 6. Thesenpapier nahm sich wieder die Epidemiologie
vor, und das 7. Papier wieder das ganze Spektrum von der Epidemiologie über die Prävention (Schwerpunkte Impfung und
Pflegeheime) und gesellschaftspolitische Implikationen. Gemeinsam ist allen Ansätzen jedoch die Ansicht, dass die Gesellschaft
noch lange Zeit „mit dem Virus wird leben müssen“, solange eben keine wirksame Impfung (hier stehen wir ganz am Anfang) oder
Therapie vorliegt. Diese Ko-Existenz wird nicht in einer Abfolge von Lockdowns des gesellschaftlichen Lebens bestehen können,
erstens weil es die Gesellschaft zu stark schädigt, und zweitens weil dieses Vorgehen wirkungslos ist – allen Beteuerungen zum
Trotz, dass der erste Lockdown ein voller Erfolg gewesen sei. Denn wenn man sich die heutige Situation im Vergleich der
internationalen Daten in Ruhe anschaut, dann kommt man viel eher zu dem Verdacht, dass Länder mit einem besonders
eingreifenden Lockdown im weiteren Verlauf besonders schlecht dastehen; aber dies muss später geklärt werden, hier werden
Gesundheitssystemforscher noch viel zu tun haben. Was aber aus der nun bald sechsmonatigen Zusammenarbeit der
Autorengruppe als zentraler Eindruck verbleibt: es lohnt sich, über den Tellerrand zu schauen, es lohnt sich, den Disput mit
Fachfremden zu führen, denn nur auf diese Weise kann man eine Epidemie entschlüsseln. Um nochmals darauf
zurückzukommen: was haben wir nun genau in Bergamo gesehen? – das ist die Kernfrage. Entgegen der vielleicht
weitverbreiteten Ansicht war es nicht (nur) eine Viruserkrankung, es war in erster Linie ein lokal zusammenbrechendes,
unvorbereitetes Gesundheitssystem, das schlecht geführt, schlecht ausgestattet und schlecht organisiert war. Also mache man
sich an die Arbeit, bessere Gesundheitssysteme, bessere lokale Steuerung und bessere Konzepte für eine effektive
Infektionskontrolle sind das Ziel.
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Zusammenfassende Darstellung
Die Autorengruppe zu Corona
- sieben interdisziplinäre Thesenpapiere in 9 Monaten -
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